Wer verstehen will, wer wir sind und warum wir so sind, der wird sich schwer tun, eine allaufklärende Antwort zu finden. Aber er wird seiner fragenden Suche Schritt für Schritt den Antworten näher kommen, je weiter er in seine Vergangenheit hinein forscht.
Die Problematik wird sogleich offenkundig. Generation auf Generation verdoppeln sich die Charaktere, die prägend auf die Vorfahren gewirkt haben und schwerer wird es, zu entschlüsseln, wer welchen Einfluss auf wen ausgeübt hat.
Welche Linie ist zu verfolgen? Die Blutlinie, oder die der erziehenden, vielleicht nicht blutsverwandten Eltern? Die Linie, in deren Besitz sich der Erbhof befand?
In Ermangelung von noch lebenden Zeitzeugen blieb mir, je weiter ich in die Vergangenheit vordrang, zuletzt nur das überlieferte Material. Und überliefert sind naturgemäß nur noch die gewaltigen Köpfe, die unerhörten Geschichten.
So erwähnte der Onkel Leo in jener Hochzeitsnacht, als ich das Ausmaß der noch lebendigen Familiengeschichte zu ahnen begann, auch die Geschichte der alten Schladin, die über Generationen hinweg weiter erzählt wurde, weil sie so unerhört war.
Erst Jahre später, als ich begann, die verschiedenen Familienlinien zu ordnen, verstand ich, dass diese Schladin mit Mädchennamen Maria Bruckmüller hieß, und die Großmutter meines Opa war. Also meine UrUroma. Und in diesem Moment wurde aus der Geschichte der Maria Bruckmüller auch meine Geschichte. Denn irgendwo in mir drin steckt auch ein Teil der Maria Bruckmüller, fließt auch ein Tropfen ihres Blutes und, wer weiß, vielleicht wird eine Tochter oder Enkelin eines Tages ihre Augen oder ihre Nase haben.
Die Geschichte der Maria Bruckmüller reicht weit zurück, aber nicht so weit, dass diejenigen, die sie noch gekannt haben, schon alle tot sind. Sie wurde 92 Jahre alt und die heutigen 92 jährigen sind ihr vielleicht als Kind noch begegnet.
Sie war im Jahr 1832 als Wagnertochter in Tengling geboren. Ihr Vater stammte aus einem sehr wohlhabenden Haus, vom Bruckmüller, der die Brandauer Mühle unterhalb der Burg in Tittmoning betrieb.
Ihr Bruder Franz machte seinerseits eine gute Partie in Anschöring. Er heiratete in die Bannmühle ein und war fortan der dortige Müller und brachte es zu einem gewissen Wohlstand.
Durch ihn kam auch sie des Öfteren nach Anschöring. Es waren politisch brisante Zeiten damals, im fernen Frankfurt tagte eine Nationalversammlung, in Berlin brannten Barrikaden, aber bis auf das Ende der Jagdrechte der Feudalherrscher hatte sich im ländlichen Oberbayern, noch dazu so weitab von der Hauptstadt des Königreichs, nichts verändert.
Im benachbarten Leobendorf bemühte sich zeitgleich ein junger Bub, der Schopperbaam Franze, um eine Beisteuer zum Erlangen eines höheren Schulabschlusses. Der Franze war ein gutes Jahr jünger als die Bruckmüller Maria und vermutlich sind sie sich einmal begegnet, als der Franze beim Pöllner, dem in dieser Zeit reichsten Bauern der Gegend, die Schafe hütete. Wenn dem so war, dann war es mit Sicherheit folgendermaßen begeben:
Die Maria war schon damals ein schönes, aber stolzes Mädchen gewesen, das den Jungen zwar mochte, aber darüber hinaus kein Interesse an ihm zeigte. Der Franze seinerseits konnte die schöne Bruckmüllerin nie vergessen. Genau so wenig wie die Zurückweisung der Gemeinde Leobendorf, die ihm eine Beisteuer verweigerte. Erst der Laufener Stiftsdekan, in dessen Auftrag der Franze mit seinem Vater zur Renovierung der Kirche Arbeiten durchführte, erkannte das außergewöhnliche bautechnische Geschick des Schopperbaam Franze. Er unterstützte den talentierten Jungen und schickte ihn auf die Münchner Baugewerksschule.
Die Bruckmüller Maria und der Schopperbaam Franze gingen fortan getrennte Wege mit Vorzeichen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können.
Während der Franze eine Firma gründete und mit seinem ersten renommierten Auftrag an der Isarkorrektur mitwirkte, blieb die Bruckmüller Maria zurück auf dem Land.
Sie lernte den Rupert kennen, denn Sohn vom Schladerer am Güßhübel und zog bald zu ihm auf den Hof. Von Heirat wollte sie allerdings noch nichts wissen. Sie mochte ihr Leben so wie es war, ging allerlei Vergnügungen nach, wenn es sich ergab und der Schladerer Rupert war nicht unglücklich, dass ihm eine so schöne Frau die Treue hielt, ohne ihn zu eng an sich zu binden.
Zu Beginn des Jahres 1860 ahnte sie noch nicht, dass sie noch in diesem Jahr in die Geschichtsbücher ihrer neuen Wahlheimat Anschöring eingehen würde.
Der Schopperbaam Franze, inzwischen als Franz Brandl ein gefragter Mann, war sich der Tragweite seines Schaffens für die weitere Geschichte seines Landes sehr wohl bewusst: Als oberster Bauherr stellte er im selbigen Jahr die Bahnlinie Teisendorf - Salzburg fertig und somit war unter seiner Leitung die direkte Bahnverbindung zwischen Paris und Wien, also dem Herzen Europas hergestellt.
Der 4. November 1860 war im Leben der Maria Bruckmüller einer dieser Tage, die still beginnen und an deren Ende sich ein Leben von Grundauf verändert hat.
In Waging fand der alterhergebrachte Martinimarkt statt. Da auch die Tenglinger Freunde und Gefährten aus Kindheitstagen am Markt waren, nutzte die Bruckmüller Maria, die im Dorf als die Zukünftige vom Rupert bereits Schladerin gerufen wurde, die Gelegenheit, um auf dem Martinimarkt Zerstreuung vom harten Alltag zu suchen.
Von Anschöring kommend gab es nur zwei Möglichkeiten, um das auf der gegenüberliegenden Seite des Sees gelegene Waging zu erreichen und umgekehrt genauso: Man konnte die Brücke bei Tettenhausen nutzen, was einen beträchtlichen Umweg bedeutet hätte. Oder man wählte die Pflichtüberfuhr beim Gut Horn, wo man auf man auf einer Fähre über den See setzen konnte.
Als die Bruckmüller Maria gegen fünf Uhr nachmittags, es wurde bereits dunkel, an der Fähre ankam, war bereits reger Betrieb. Zahllose Männer und Frauen die auf dem Rückweg vom Markt waren, warteten auf die Fähre. Die meisten waren bereits recht rauschig, weil das kühle Novemberwetter auch zum Verweilen in der Wirtschaft eingeladen hatte.
Das Fährschiff konnte bis zu 20 Mann sicher ans andere Ende des Sees fahren. Als es schon voll besetzt war, drängten weitere Burschen in das Schiff. Die Laune auf dem Schiff war prächtig, auch die Bruckmüller Maria war aufgekratzt vom fröhlichen Tag und winkte, ebenso wie die anderen, als schließlich der 28. Passagier ins Boot sprang. Der erfahrene Fährmann weigerte sich zunächst, das überladene Schiff zu fahren. Als ihn die kräftig an Statur und kräftig angesoffenen Burschen Prügel androhten und ankündigten, das Schiff eigenmächtig zu fahren, erschien es ihm allemal klüger, die unvernünftigen lieber in den Händen eines langjährigen Fährmanns zu wissen. Die Maria lachte, wie die anderen auch, über die derben Sprüche gegen den Fährmann und bemerkte nicht, dass die anderen am Ufer entsetzt und kopfschüttelnd zu ihnen hinübersahen. "Was ist denn hier los?", fragte einer. "Ertrinken wollens", so die Antwort.
Als sich das Floss nur wenige Meter vom Ufer abgesetzt hatte, nahm es bereits einen bedrohlichen Tiefgang. Als die ersten Frauen entsetzt zu schreien begannen, stand einer der Passagiere auf, um eine der Frauen, die er recht gerne mochte, schützend in den Arm zu nehmen. In dem Moment geriet das Schiff in Schräglage und kenterte.
Die Bruckmüller Maria landete im eiskalten Wasser. Sie konnte, wie die meisten, nicht schwimmen und ihr Wintermantel sog sich mit Wasser voll und zog sie in die Tiefe. Es gelang ihr, sich an den Planken des Bootes festzukrallen, rutschte wieder und wieder ab und zog sich, all ihre Kräfte aufwendend, wieder nach oben. Sie brach sich sämtliche Nägel, und schürfte sich die Fingerkuppen ab in ihrem Kampf ums Überleben. Nur unter unnmenschlichen Schmerzen gelang es ihr, nicht vom tödlichen Seegrund verschlungen zu werden. Links und rechts von ihr schrien die Ertrinkenden. Sie brüllten und riefen nach Hilfe. Vom anderen Ufer her eilte das Gegenschiff in lähmender Langsamkeit herbei. Einige wenige Mutige, die des Schwimmens mächtig waren, sprangen ins Wasser, um die Ertrinkenden zu retten. Andere rissen den Fährsteg aus seiner Verankerung und schoben ihn zu den Menschen im Wasser. Keine fünf Minuten später war es gespenstisch still auf dem See. Nur das leise Wimmern der Bruckmüller Maria war noch zu hören, die sich noch immer an den Planke festkrallte. Als das rettende Boot sie erreichte und sie zurück auf festen Boden brachte, waren ihre Finger krumm und sollten es ihr Lebtag lang bleiben.
Aber sie war am Leben. Voller Dankbarkeit leistete die Bruckmüller Maria einen heiligen Eid, dass sie fortan täglich in die Kirche gehen würde, da ihr der Liebe Gott ein zweites Leben geschenkt hatte.
Sie war 28 Jahre alt, als dieses zweite Leben begann. Außerdem versprach sie dem Rupert, ihn zu heiraten, sobald es die rechtlichen Voraussetzungen erlaubten. Dazu gehörte unter anderem der Nachweis von Grundbesitz. Es dauerte noch vier Jahre, bis der Rupert den Hof überschrieben bekam. Im selben Jahr heirateten der Straßer Rupert und die Bruckmüller Maria. Innerhalb weniger Jahre schenkte sie dem Rupert sechs Kinder, von denen vier überlebten. Wer nicht überlebte war der Rupert, der kurz nach der Geburt des sechsten Kindes verstarb.
Maria Bruckmülller war gezeichnet vom Schiffsunglück, hatte missgestaltete Finger, zog vier Kinder groß und war nun Witwe. Sie hatte ein neues Leben geschenkt bekommen, aber dieses stellte sie vor eine schwere Prüfung.
Sie war nun über vierzig Jahre alt, aber immer noch eine schöne Frau. In diesen schweren Jahren ließ das Schicksal ihre Wege mit denen des Schopperbaam Franze wieder kreuzen, der sich ab und an noch in Laufen aufhielt. Erst erkannte sie den feinen, reichen Herren aus München nicht, aber der Brandl Franz erkannte sie sofort.
Sie unterhielten sich lange und sie schüttete ihm ihr Leid aus, wie gut und wie schlecht das Schicksal es mit ihr meinte, welch Prüfungen der liebe Gott ihr abverlange.
Der Brandl Franz, der die Maria nie vergessen hatte und ihrer Nähe nicht der mächtige Baumeister Brandl, sondern wieder der kleine Hirtenjunge Franze war, bat sie, sie wiedersehen zu dürfen.
Sie trafen sich einige Male und der Baumeister Brandl erzählte, dass er vom König Ludwig Höchstselbst den Auftrag erhalten habe, ihm ein neues Schloß zu bauen. Ein passender Grund auf einer Insel am Chiemsee sei bereits gekauft und das Schloß sollte prächtig werden wie jenes vom Sonnenkönig in Frankreich.
Die Maria war geschmeichelt, dass sich ein so mächtiger Mann mit ihr abgab, aber sie hatte auch einen scharfen Blick für die Menschen und sie ließ sich von Reichtum und Macht nicht blenden. Sie hatte vier kleine Kinder, die sie zu anständigen Menschen zu erziehen hatte und denen sie ein gutes Vorbild sein wollte. Außerdem ging sie, wie sie es gelobt hatte, täglich in die Kirche.
Als ihr der künftige Schlossbauer Franz Brandl Andeutungen machte, dass er sie zu heiraten gedenke, wurden in ihr starke Bedenken laut. Ihr Rupert war noch nicht lange unter der Erde, finanziell ging es ihr gut und so gern sie den alten Schopperbaam Franze gemocht hatte, der reiche Baumeister Brandl blieb ihr fremd. Sie wusste, dass niemand in der Verwandtschaft, im Dorf, vielleicht niemand in ganz Bayern sie verstehen würde, dass sie den reichen Baumeister nicht heiraten wollte, also suchte sie nach einem triftigen Vorwand. Diesen fand sie in der engen Familie des Baumeisters, in dem sich auch eine Evangelische befand. Als tatsächlich der Antrag folgte, wies sie diesen höflich, aber bestimmt unter der Angabe, dass sie in keine evangelische Familie hinein heiraten könnte, zurück.
Mit dieser Zurückweisung endete auch das Verhältnis zwischen der Schladin und dem Franz Brandl, die sich darauf nie wieder sahen.
Der Baumeister Brandl hatte sich von dieser Abfuhr nie wieder erholt. Er baute dem König sein Märchenschloss am Chiemsee, wurde als Dank in den Ritterstand gehoben und starb als reicher Mann. Aber er hatte zeitlebens keiner Frau mehr einen Antrag gemacht.
Die Maria blieb bis zu ihrem Tod die Schladin. Sie erzog ihre Kinder zu ehrgeizigen, klugen jungen Männern.
Ihr zweitältester, der Sebastian, sollte später sogar der Bürgermeister von Anschöring werden.
Auch ihr Gelübde löste sie ein. Sie ging auch in hohem Alter täglich ins Dorf hinunter, um die Heilige Messe zu besuchen und den Herrgott für ihr geschenktes Leben zu danken.
Dabei spazierte sie auch am Jellenbauernhof vorbei, auf dem inzwischen ihr Sohn Sebastian der Bauer war.
Und dessen Kinder erzählten noch ihren Enkeln die Geschichte, dass die Schladin nach jedem Kirchgang aus dem Dorf Brezen mitgebracht hat, die sie den Kindern schenkte.